Martin Luther und seine Bedeutung für die deutsche Kultur
Die Erinnerung an den Beginn der Reformation durch den Augustinermönch Martin Luther in Wittenberg am 31. Oktober 1517
wird zu Recht nicht nur als ein Ereignis der evangelischen Kirche betrachtet, sondern angesichts der tiefgehenden Auswirkungen
auf das Recht und die Verfassung bis zur Gegenwart als weltgeschichtliche Epoche, die in vielen Ländern der Welt gefeiert
wird. Der Thesenanschlag führte nicht nur zur (teilweisen) Reformation der christlichen Kirche, sondern hat die Entwicklung
der Sprache, des Rechts und sogar des modernen Staates befördert.
Martin Luthers Ausgangspunkt war - angesichts der menschlichen Unzulänglichkeiten - die Suche nach der Gnade Gottes.
Die Lösung fand er im Römerbrief des Apostels Paulus, der den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi als Rechtfertigung des Menschen im Glauben vor Gott verstanden hatte. Über die akademische Welt hinaus begannen diese Gedanken die Menschen zu bewegen. So setzte sich Luther alsbald dafür ein, die evangelischen Gottesdienste in deutscher und nicht mehr
in lateinischer Sprache zu feiern, die Predigt in den Mittelpunkt zu rücken und den Gläubigen das Abendmahl in Gestalt von Brot und Wein zu reichen. Das erlaubte die persönliche Begegnung des einzelnen Menschen mit der frohen Botschaft.
Nachdem Martin Luther auf der Wartburg die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt hatte, starteten die lutherischen Fürsten und Städte mit einer “Bildungsinitiative”: Neue Schulen und Universitäten wurden gegründet. Jeder sollte das Wort
Gottes in der Heiligen Schrift selbst lesen und verstehen können. Insofern übernahm Martin Luther ältere Ideen, daß die
Obrigkeit für das weltliche und ewige Wohlergehen ihrer Untertanen verantwort lich sei. Damit wurde zugleich die Weiterentwicklung mittelalterlicher Herrschaft in den frühmodernen Staat erheblich gefördert. Im lutherischen Pfarrhaus sind unzählige große Dichter, Gelehrte und Politiker geboren worden und tätig gewesen, etwa die Philosophen Samuel von Pufendorf, Johann Gottfried Herder und
Friedrich Nietzsche, die Dichter Paul Gerhardt und Hermann Hesse, der Jurist und Historiker Theodor Mommsen sowie die Politiker Joachim Gauck, Markus Meckel und Angela Merkel.
Natürlich ist auch die Musik von der Reformation beeinffußt worden. Martin Luther selbst war ein guter und begeisterter Musiker. Fast 40 Lieder im evangelischen Kirchengesangbuch stammen von ihm. Vor allem das evangelische Kirchenlied hat das Erlebnis von Gemeinschaft gestärkt und Glaubenserfahrungen vermittelt. Zu erwähnen ist natürlich Johann Sebastian Bach, der lutherische Theologie in seine geistliche Musik in berührender Weise umgesetzt hat.
Weniger bekannt, doch ebenso bedeutsam sind die Auswirkungen der Reformation Luthers auf Recht und Staat. Die vielfältigen Konflikte mit der römischkatholischen Kirche mündeten in den Augsburger Religionsfrieden von 1555.
Dieser sogenannte “Religions"-Frieden ist tatsächlich ein Vertrag der weltlichen Herrscher gewesen. Die religiösen Führungspersönlichkeiten wurden gar nicht beteiligt, weil das vorrangige Ziel der Beteiligten die Herstellung einer äußeren
Friedensordnung war. Daher konnte ein weltliches, religiös indifferentes Kirchenrecht entstehen, das die gegenseitigen
religiösen Wahrheitsansprüche der Kirchen neutralisierte. Während die theologischen Streitigkeiten aus dem Religionsfrieden ausgeklammert wurden, gelang es, eine weltliche Rahmenordnung zu etablieren, die den Konfessionen einen geschützten autonomen Bereich gegenüber dem Staat und gegenüber anderen religiösen Bekenntnissen sicherte. Zugleich bildet das staatliche Recht eine Grenze für die Religionsgemeinschaften gegenüber anderen religiösen Bekenntnissen, die ebenfalls interne Autonomie genießen. Das
weltliche Recht verlor seine Bindung an die religiöse Wahrheit, um aber auf diese Weise die religiöse Wahrheit gegen andere Wahrheitsansprüche in ihrer Existenz zu sichern und zu bewahren. Hier liegt die Wurzel der heutigen pluralistischen Koex-
istenz der Konfessionen im Grundgesetz.
Diese Lösung hatte Martin Luther vorbereitet, indem er das weltliche Recht endgültig von der Religion und einer päpstlichen Mitwirkungsbefugnis getrennt hatte. Letztlich läßt sich die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, die für den westlichen Kulturkreis grundlegend ist, auf Markus 12, 17 und Matthäus 22, 21 zurückführen: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist."
Luther zeigt durchaus einen positiven Blick auf die Welt. Nach seiner Ansicht ist der einzelne Mensch aufgerufen, sein Zusammenleben mit anderen in eigener Verantwortung unter Maßgabe der christlichen Botschaft zu gestalten. Zugleich ist die Staatsgewalt für Luther notwendig und wird als Gottes Einrichtung betrachtet, um den Frieden in der menschlichen Gemeinschaft gegen willkürliche und eigen-
mächtige Rechtsdurchsetzung zu sichern.
Damit steht die lutherische Lehre sowohl einer Theokratie, aber ebenso den innerweltlichen totalitären Weltanschauungssystemen, die einen als paradiesisch beschriebenen Endzustand durch Blutvergießen und Gewaltanwendung realisieren wollen, ablehnend gegenüber. Toleranz wird in den internen Angelegenheiten der Religion gewährt, nach außen gilt jedoch die staatliche Rahmenordnung, die Verbindlichkeit für alle Bewohner beanspruchen muss. Es wundert daher nicht, daß die Montagsdemonstrationen gegen die kommunistische Führung in der DDR im Sommer 1989 in der lutherischen St. Nikolai-Kirche in Leipzig begannen. Angesichts gegenwärtiger Sorgen über gewalttätige Anhänger des Islam, "Reichsbürger" oder die Antifa etc. ist das lutherische Konzept von erstaunlicher Aktualität.
Prof. Dr. Steffen Schlinker
(Foto:epd bild/Steffen Schellhorn)